Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, ein Sozialist im Nadelstreif, erlaubt sich, der Oppositionspartei AfD die bürgerliche Prägung abzusprechen. Er wirft ihr eine „antibürgerliche“ Haltung vor und sieht keine Begründung, warum die AfD das Bürgertum vertreten möchte. Bürgertum, Rechtsstaat und individuelle Freiheitsrechte gehörten zusammen, sagte er gegenüber dem Spiegel und unterstellt der AfD, gegen diese Werte zu sein.
Wer sich in dieser Tradition sieht, der kann nicht gleichzeitig einem ausgrenzenden, autoritären oder gar völkischen Denken huldigen. Das ist das Gegenteil von bürgerlich: Es ist antibürgerlich.
Aus Sozialdemokraten wurden Bürgerliche
Die heutigen Sozialdemokraten sehen sich selbst also als bürgerlich und verteidigen das Bürgerliche. Damals, als man sich noch als antibürgerlich verstand und alles Bürgerliche als „bourgeois“ verunglimpfte, damals hatte die SPD eine andere Ausrichtung.
So hatte Willi Brandt 1973 den Anwerbestopp der, um 1960 noch so genannten, Gastarbeiter im Zusammenhang mit der Ölkrise so formuliert:
Wir müssen zuerst an unsere Landsleute denken.
Ein Satz, der heute keinem Sozialdemokraten mehr über die Lippen käme. Heute, wo sich ihr oberster Vertreter nicht nur als bürgerlich definiert, sondern auch anderen das Prädikat abspricht.
Wandel der Sozialdemokratie
Auf dem SPD-Parteitag im Jahr 2016 wurde die Form der Solidarität, wie sie Brandt verstand und nur noch von der AfD vertreten wird, von dem Gastredner Heinz Bude als „perverse Solidarität“ bezeichnet. Steinmeier dazu im aktuellen Spiegel:
Jede Partei muss sich entscheiden, wo sie stehen will: entweder völkisch kollektivistisch oder aufgeklärt bürgerlich. Beides gleichzeitig geht nicht.
Das ist das Dilemma der Sozialdemokratie: Die Entsolidarisierung mit den eigenen Landsleuten. Und genau dieses Verständnis der Sozialdemokratie hat zu ihrem Abstieg geführt.