Sechs Millionen Menschen leben bereits in Kabul – viele davon können sich zum Heizen und Kochen nur altes Plastik oder anderen Giftmüll leisten und atmen die Dämpfe ungefiltert ein.

28. November 2019 / 17:40 Uhr

In Kabul sterben mehr Menschen an schlechter Luft als an Krieg und Terror

Laut neusten Datenerhebungen sterben tausende Menschen in Afghanistan nicht etwa durch Krieg und Terror, sondern aufgrund von verschmutzter Luft. Dürren, Hungersnot, Wassermangel und schlechte Gesundheitsversorgung gesellen sich dazu. Wo früher Titelseiten voll von Kriegs- und Terrormeldungen aus dem arabischen Land waren, fehlen heute die Berichte angesichts einer ausgedehnten humanitären Krise.

Plastik-Müll als Brennstoff

Kabul, Afghanistan. Eine Familie mit drei Kindern sitzt auf dem blanken Betonboden. Ihre Kleider sind schmutzig, die Augen glanzlos. Auf einem selbstgebauten Ofen wird Teewasser erhitzt. Der Brennstoff: Plastik. Für Holz fehlt das Geld, weswegen der Vater der Familie Mülltonnen nach brennbaren Materialien durchforsten muss. Gesundheitsschädigende Dämpfe sind die Folge. Die Familie kam aus dem Osten des Landes. Wie so viele andere musste die Familie flüchten, denn das Land kommt seit 1978 nicht mehr zur Ruhe.

Seit 40 Jahren kein Frieden im Land

Erst war es ein Staatsstreich durch die kommunistische Volkspartei, der schwere Unruhen nach sich zog. 1979 dann intervenierte die ehemalige Sowjetunion, was einen zehn Jahre andauernden Konflikt auslöste. 1992 folgte dann ein Bürgerkrieg. Die von den USA unterstützten Taliban übernahmen infolgedessen die Kontrolle über den größten Teil des Landes. 2001 wandelte sich die Unterstützung der USA für die Taliban in eine kriegerische Intervention inklusive Verletzung der UN-Charta um. Das alles war eine Folge der Ereignisse des 11. September. Die Taliban weigerten sich , gegen die Terrororganisation Al-Qaida vorzugehen. Dieser Konflikt ist seither in den Medien keine Seltenheit mehr. Doch zurück nach Kabul.

40.000 Tote im Jahr durch giftige Luft

Rund sechs Millionen Menschen leben bereits in der Hauptstadt Afghanistans. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) sterben davon rund 40.000 Menschen jedes Jahr. Tote in Afghanistan sind dabei keine Schlagzeile auf den Titelseiten der westlichen Medien mehr wert. Was aber, wenn diese Toten nicht durch kriegerische Unruhen oder terroristische Anschläge zustande kamen? Was, wenn es sich um Luftverschmutzung dreht? Ca. 40.000 Menschen pro Jahr lassen ihr Leben in Kabul tatsächlich aufgrund schlechter Luft – das sind größere Todeszahlen als durch Krieg und Terror zusammen.

Smog verdeckt sogar Berge

Das Dilemma in Afghanistan ist keine Folge von Klimawandel oder fahrlässigem Umgang mit der Umwelt. Es ist das Resultat jahrzehntelanger kriegerischer Unruhen, die weite Teile der Infrastruktur des Landes zerstört haben. Die Ausbildung von Sicherheitskräften und die sogenannte Hilfe zum Wiederaufbau bringen nichts, wenn Millionen von Menschen bei Wintertemperaturen von unter null Grad heizen müssen. Und der Brennstoff dafür ist viel zu oft Müll wie etwa altes Plastik, Schaumstoff oder Ähnliches. Über Kabul hängt, besonders im Winter, eine dunkle, ungesunde Rauchwolke. Wo sonst malerisches Bergpanorama zu sehen wäre, gibt es dichten Smog.

Infrastruktur ist völlig zerstört

Doch das war nicht immer so, erklärt der Direktor der afghanischen Umweltbehörde, Ezatullah Sediqi: “Die Luft in Kabul war früher vorbildlich. Die Leute sind wegen der guten Luft hergekommen. Aber nach drei Jahrzehnten Krieg haben wir alles verloren. Die gesamte Infrastruktur für Energieversorgung, Wasserversorgung und auch öffentlichen Verkehr. Alles ist kaputt.” Die Armut der Menschen zieht zudem veraltete Autos mit billigem Kraftstoff nach sich. Das Stromnetz ist hochgradig überlastet und instabil. Die häufigen Stromausfälle werden mit Dieselgeneratoren zu kompensieren versucht, was weitere Luftverschmutzung verursacht.

Kaum Platz für Kranke

Die Gesundheitsversorgung liegt zudem im Argen. Doktor Saifulah Abassin vom Indira Gandhi Krankenhaus in Kabul erklärt dazu: “Wir haben viel zu viele Patienten mit Atemwegserkrankungen.“ Besonders betroffen seien Frauen und Kinder. Doch der Platz zur Versorgung der Patienten fehle. „In einer Abteilung gibt es zehn Betten für 30 Kinder, die behandelt werden müssen. Zudem fehlt es an Medikamenten. Denn wir werden vom Ministerium nur für zehn Patienten ausgestattet.”

Internationale Hilfe konzentriert sich nur auf Sicherheit

Politische Verfehlungen? Nein, denn die Regierung kann nur bereitstellen, was zur Verfügung steht. Ähnlich wie in Syrien oder im Jemen liegt das Problem eher daran, dass die – vor allem westliche – Weltgemeinschaft einfach die Augen zumacht. Während laut State of Global Air-Bericht des Health Effect-Instituts in Boston hervorgeht, dass in Afghanistan 406 von 100.000 Menschen aufgrund von Luftverschmutzung sterben, sind das in Deutschland beispielsweise lediglich 22 von 100.000. Hilfsgelder kommen aber nicht etwa für Technologien, um diesen Zahlen entgegenzuwirken, sondern für den Sicherheitssektor, heißt es vom US-Sonderinspekteur. Hauptsache, es ist mehr oder weniger sicher in Afghanistan. Dass Menschen durch Hungersnot, verschmutztes Wasser oder gar die Luft selbst sterben, scheint dabei nicht weiter relevant zu sein.

Kein Entkommen vor Luftverschmutzung

Die Familie in Kabul jedenfalls hat keine Zeit, sich Gedanken über die Weltgemeinschaft oder Politik zu machen. Ihr geht es nur ums Überleben. Krieg, Terror, Hungersnot, Wassermangel, Kälte – all das könnte diese Familie und tausende andere Menschen in Afghanistan das Leben kosten. Doch all diese Notstände sind auf die eine oder andere Art und Weise abwendbar. Atmen müssen diese Menschen aber in jedem Fall. Selbst dann, wenn es das Letzte sein könnte, was sie tun.

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