Paolo Mieli, Chefredakteur des Corrriere von 1992 bis 2009, schrieb im Leitartikel am 23. Juli im Corriere della Sera (entspricht der österreichischen Presse) kryptisch und zum damaligen Zeitpunkt wenig beachtet, da unverständlich, dass Italiens Ministerpräsident, der parteilose Giuseppe Conte, über „zwei Mehrheiten“ im Parlament verfüge: über die damals noch existierende der Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) und der Lega sowie über eine EU-freundliche von Fünf-Sterne-Bewegung mit den Linksdemokraten (PD).
Regieren im Einklang „mit den Eliten“
Zu jenem Zeitpunkt erlebte Italiens Innenminister und Vize-Ministerpräsident Matteo Salvini mit seiner Lega gerade seinen Höhenflug in den Meinungsumfragen. Bei Neuwahlen schien eine Mehrheit aus eigener Kraft und ohne den M5S in Reichweite. Mieli forderte just in diesem Augenblick Conte zum Wechsel der Mehrheit auf, denn damit bringe der Ministerpräsident, so Mieli, die Regierung wieder in Einklang „mit den Eliten“. Wortwörtlich!
Mieli sagte nichts weniger als: Nicht der Einklang mit dem Volk zählt, sondern mit den Eliten. Und die haben die Regierung von M5S und Lega immer abgelehnt, weil EU-kritisch und „populistisch“. Die Aussicht, die Lega könnte in absehbarer Zeit mit Salvini sogar den italienischen Regierungschef stellen, ließ die Eliten in Rom, Mailand, Brüssel, Berlin und Paris aufschrecken. Am Ende dieser Regierung hatte man aber schon länger gearbeitet. Mielis Leitartikel zeigte bereits den Wendepunkt an, als man sich der Sache schon ziemlich sicher war.
„Operation Ursula“
Stefano Fontana, zunächst Familienminister, dann Minister für Europäische Angelegenheiten, sagte nun, der M5S habe die „rote Linie“ überschritten, als Ursula von der Leyen am 16. Juli nur dank der Stimmen des M5S zur neuen EU-Kommissionspräsidentin gewählt wurde. Von der Leyen wurde mit der bisher knappsten Mehrheit ins Amt gewählt. Sie erhielt nur neun Stimmen mehr, als notwendig sind. 15 Stimmen stammten vom M5S. Fontana dazu:
Für uns, Salvini und die Lega, war damit klar, dass Conte und der M5S eingekauft worden waren.
Nicht-linke Medien sprechen deshalb von der „Operation Ursula“, benannt nach der neuen Präsidentin der EU-Kommission, um zu verdeutlichen, dass der Regierungswechsel von der EU gewollt ist.
Anruf aus Berlin
Als die Verhandlungen zwischen M5S und PD für eine andere, eine linke Mehrheit zu scheitern drohten, kam es, wie die Tageszeitung La Repubblica (entspricht dem österreichischen Standard) am 31. August berichtete, zu einem Telefonanruf aus Berlin. Bundeskanzlerin Angela Merkel rief den letzten PD-Ministerpräsidenten Paolo Gentiloni, den „roten Grafen“, der bis zu den jüngsten Parlamentswahlen im März 2018 regierte, an.
Die Botschaft von Merkel sei eindringlich gewesen, so La Repubblica:
Macht weiter um jeden Preis, die Souveränitäts-Bewegung muss gestoppt werden.
Regierungskrise als Produkt des G7-Gipfels
Im Klartext: Berlin will in Italien nicht nur eine andere Regierung, sondern griff aktiv ein, um die Regierungskrise auszulösen und zu lenken.
Maurizio Belpietro, der Chefredakteur der Tageszeitung La Verita, schrieb dazu:
Im großen Durcheinander in diesen Tagen gibt es nur wenige Gewissheiten. Eine davon scheint folgende zu sein: Die im Entstehen begriffene Regierung ist ein Produkt der europäischen Staatskanzleien, die am Rande des G7-Gipfels ihren Plan verwirklicht haben. Die neue Achse M5S-PD wurde in Biarritz besiegelt.