Der zentralasiatische Raum ist, vielfach wenig beachtet von den europäischen Medien, einer der am stärksten umstrittenen weltweit. Die großen Mächte USA, Russland und China kämpfen dort ebenso um Einfluss wie der Iran oder die Türkei. Abgesehen von deren Streben brechen immer wieder regionale Konflikte auf, die ethnisch oder religiös motiviert sind. Unzensuriert.at fasst die geschichtliche Entwicklung und die gegenwärtige Lage zusammen.
Die historische Entwicklung – interessante Parallelen zur Gegenwart
Der 1901 erschienene Roman „Kim“ von Rudyard Kipling prägte den Begriff des „Great Game“ als Machtkampf zwischen dem zaristischen Russland und dem britischen Empire um die Weiten Zentralasiens. Bereits im Frieden von Tilsit 1807 hatte Napoleon Zar Alexander I. den Plan vorgetragen, die Briten mit einem Zangengriff aus Asien zu vertreiben – die Franzosen sollten ihre missglückte Invasion in Ägypten wiederholen, während die Russen durch Turkestan nach Süden auf Indien vorstoßen sollten. Während die französischen Ansprüche am Nil nach der Faschodakrise und dem darauf folgenden Sudanvertrag aufgegeben wurden, breitete sich Russland während des 19. Jahrhunderts stetig nach Südosten aus und konnte schließlich ganz Turkestan, das die heutigen „Stan-Staaten“ umfasst, erobern. Das endgültige Ziel, zum Indischen Ozean vorzustoßen, konnten die Russen allerdings nicht erreichen. Dennoch blieb die Angst der Briten vor einer derartigen Entwicklung stets vorhanden, sodass diese alles daran setzten, einen weiteren Vorstoß der Russen zu verhindern. Bereits damals lag Afghanistan im Zentrum des Konfliktes; Russland versuchte mehrmals erfolglos das Land unter seinen Einfluss zu bringen, und auch die Briten konnten dieses Ziel trotz dreier verlustreicher Kriege nicht erreichen. Neben Afghanistan war auch Persien ein Brennpunkt dieses Konfliktes: Persische Gebiete im Kaukasus (Georgien, Armenien und Aserbeidschan) mussten an Russland, Gebiete im Nordosten (um die Stadt Herat) auf britischen Druck an Afghanistan abgetreten werden. Während beider Weltkriege wurde das Land von russischen bzw. sowjetischen und britischen Truppen besetzt.
Der russisch-japanische Krieg 1905 und die Oktoberrevolution bremsten das russische Vorhaben eines Vorstoßes nach Süden, aufgegeben wurde es aber nicht. Auch die sowjetische Invasion Afghanistans 1979 ist in diesen Kontext einzuordnen.
1991 – die Karten werden neu gemischt
Der Zerfall der Sowjetunion 1991 und die chaotischen Zustände im Russland der frühen 1990er Jahre ermöglichten es anderen Mächten, allen voran den USA, in Zentralasien Fuß zu fassen. Doch auch andere Staaten nutzten die Chance, Einfluss zu gewinnen. Neben den beiden neuen asiatischen Großmächten China und Indien traten auch kleinere Mächte in das Ringen um die Vorherrschaft in diesem Raum ein. Dem Iran und der Türkei kommen dabei die ethnischen und kulturellen Verbindungen zugute: Viele Turkvölker Zentralasiens und im Kaukasus fühlen sich der Türkei eng verbunden, während der Iran versucht seinen Einfluss auf die iranischen Völker, vor allem die Tadschiken, geltend zu machen.
Heartland-Theorie und Seidenstraßen-Strategie
Neben den unzähligen Rohstoffvorkommen der Region macht vor allem die geopolitische Lage Zentralasien so bedeutsam für die Weltpolitik. Bereits 1904 formulierte der britische Geostratege Halford Mackinder die „Heartland-Theorie“. Für die Beherrschung der „Weltinsel“ (Eurasien und Afrika) sei die Dominanz über das Herz dieser Weltinsel – das europäische Russland, Westsibirien und Zentralasien – vital. Sollte dies einer Macht gelingen und sie diesen Raum verkehrstechnisch und industriell erschließen können, so würden die kontinentalen Randgebiete unweigerlich von dieser Macht dominiert und schließlich die umliegenden Seemächte – Großbritannien, Japan und schließlich auch die USA – immer mehr an den Rand gedrängt werden. Eine derartige Macht hätte neben enormen Ressourcen an Menschen, Rohstoffen und industriellen Produkten auch die Möglichkeit, die Stützpunkte der Seemächte von Land her zu bedrohen und zu erobern.
In seinem Buch „Die einzige Weltmacht“ griff der nationale Sicherheitsberater Präsident Carters, Zbigniew Brzezinski, Teile dieser Theorie wieder auf und definierte Zentralasien als entscheidenden Raum für eine angestrebte US-Hegemonie. Um eine russische Bedrohung endgültig auszuschalten, forderte er außerdem, Russland in drei Teile – das europäische Russland, Sibirien und eine fernöstliche Republik – zu zerschlagen.
1999 beschloss das US-Repräsentantenhaus die „Seidenstraßenstrategie“, die – obwohl nicht von Senat und Präsident ratifiziert – wesentliche Punkte der US-Strategie für Zentralasien vorgibt. Durch großzügige wirtschaftliche Hilfe und die Unterstützung von Friedenstruppen im Konfliktfall soll die Region stabilisiert und US-amerikanischer Einfluss garantiert werden.
Entwicklungen nach 2001
Die Ereignisse des 11. September 2001 gaben der US-Regierung die Möglichkeit der direkten militärischen Intervention in der Region, sodass derzeit knapp 60.000 Soldaten in Afghanistan stationiert sind. Daneben unterhält das US-Militär Basen in Kirgisistan, Usbekistan und Pakistan. Der andauernde Konflikt in Afghanistan ist dabei eine große Belastung für die US-Strategie in Zentralasien.
Doch auch Russland ist präsent, wobei das größte Kontingent in Tadschikistan steht; weitere Stützpunkte befinden sich in Kasachstan und Kirgisistan. Um den US-Machtanspruch einzudämmen, unterhält Russland gute Kontakte zu China und dem Iran. Der wichtigste Verbündete der USA in der Region – Pakistan – ist zugleich auch der problematischste. Das Land ist innerlich zerrissen, die Regierung instabil und ein großer Teil der Bevölkerung den USA gegenüber skeptisch bis offen feindselig eingestellt.
Die zentralasiatischen Staaten selbst versuchen, dem Druck der großen Mächte durch eine eher neutralistische Politik zu widerstehen und zu den USA, Russland und China gute Beziehungen zu unterhalten, um einseitige Abhängigkeiten zu vermeiden und keinen dieser Staaten gegen sich aufzubringen.
Daneben stellen regionale ethnische Konflikte eine große Bedrohung für die innere Stabilität der jungen „Stan-Staaten“ dar. Auch das Erstarken islamistischer Bewegungen ist nicht zu unterschätzen. Die Bekämpfung derartiger Gruppen stellt ein gemeinsames Interesse sowohl der USA, Russlands und Chinas als auch der regionalen Machthaber dar.
Zentralasien gleicht einem Pulverfass, das bereits ein kleiner Funke zum Explodieren bringen kann. Die zurückhaltende Reaktion aller Beteiligten auf die jüngsten Konflikte in Kirgisistan zeigt, dass diese sich der großen Gefahr durchaus bewusst sind. Diesen Gordischen Knoten zu zerschlagen scheint keine Lösung zu sein, vielmehr muss wohl jeder Faden sorgfältig einzeln entwirrt werden, um eine Eskalation der schwelenden Konflikte zu vermeiden.
Die Stan-Staaten im Überblick
Unzensuriert.at hat in den letzten Wochen über die einzelnen Staaten Zentralasiens berichtet. Hintegrundinformationen über diese Länder finden Sie hier zusammengefasst:
Kasachstan: Von Stalins Völkerkerker zum begehrten Handelspartner
Turkmenistan – Das Reich des "Turkmenbashi"
Usbekistan – Das stolze Erbe Tamerlans
Tadschikistan – Das Armenhaus Zentralasiens
Kirgisistan – Jurten im Himmelsgebirge
Hintergrund: Die Ursachen der Unruhen in Kirgisistan