Warum überweist Österreich Familienbeihilfen und Differenzzahlungen in diverse EU-Staaten, obwohl es EU-rechtlich so nicht interpretiert werden kann?

10. Oktober 2018 / 13:35 Uhr

Familienbeihilfe ins Ausland: Warum nicht komplett streichen?

Seit einiger Zeit hinterfragt unzensuriert.at, warum Österreich Angehörigen aus diversen EU-Staaten die volle Familienbeihilfe ausbezahlt, obwohl sich aus den dafür zuständigen Gesetzen rein rechtlich kein Anspruch herauslesen lässt. Vor drei Wochen schickte unzensuriert.at eine Anfrage an das Familienministerium. Eine Nachfrage ergab, dass die betroffene Fachabteilung noch keine Rückmeldung gegeben habe. Angefragt wurde auch die EU. Ein EU-Sprecher gab daraufhin eine Antwort auf eine Frage, die von unzensuriert.at nicht gestellt worden war.

Eine parlamentarische Anfragebeantwortung schlüsselt auf, in welche Staaten Österreich im Jahr 2017 die volle Familienbeihilfe bezahlt hat. Auch wird eine Schätzung angeführt, wie viel Differenzzahlung bezahlt wird. Die Schätzung gibt es anscheinend deswegen, weil das veraltete IT-System des Finanzministeriums keine Auswertung vornehmen kann, wie es der Rechnungshof in einem Bericht festhielt. Dazu aber später.

Vergleich zu Deutschland, der Slowakei und Ungarn

Unzensuriert.at wird ein paar Beispiele anführen, warum die Auszahlung in diverse Staaten zu hinterfragen ist. Um ein besseres Verständnis zu erhalten, müsste zuerst der Artikel über den EU-Gesetzesdschungel bei der Familienbeihilfe gelesen werden.

Im Jahr 2017 wurde Beziehern von insgesamt 2.687 Kindern, die in Deutschland leben, die volle Familienbeihilfe aus Österreich bezahlt.

Gehen wir von folgendem Beispiel aus:

Zwei Kinder haben die deutsche Staatsbürgerschaft und leben in Deutschland. Die Mutter lebt in Deutschland, der Vater lebt in Österreich und arbeitet.

In Deutschland gibt es das “Kindergeld”. Es beträgt jeweils 194 Euro für das erste und das zweite Kind, für das dritte Kind 200 Euro, für viertes und folgendes 220 Euro.

Die Familienbeihilfe in Österreich beträgt für jedes Kind monatlich 114 Euro, sie erhöht sich ab Beginn des Kalendermonats, in dem das Kind das dritte Lebensjahr vollendet, auf 121,90 Euro, ab Beginn des Kalendermonats, in dem das Kind das zehnte Lebensjahr vollendet, auf 141,50 Euro und ab Beginn des Kalendermonats, in dem das Kind das 19. Lebensjahr vollendet, auf 165,10 Euro.

Der monatliche Gesamtbetrag an Familienbeihilfe erhöht sich durch die Geschwisterstaffelung für jedes Kind, wenn sie für zwei Kinder gewährt wird, um 7,10 Euro für jedes Kind, wenn sie für drei Kinder gewährt wird, um 17,40 Euro pro Kind,

Rechtlich folgt:

Der Vater lebt zwar in Österreich und könnte laut Artikel 67 der EU-Verordnung 883/2004 einen Anspruch auf Familienbeihilfe geltend machen, als ob die Kinder in Österreich leben würden. Das österreichische Finanzamt prüft den Fall und stellt fest, dass Österreich gemäß Artikel 68 der EU-Verordnung 883/2004 nachrangig zuständig ist. Ob eine Erwerbstätigkeit vorliegt, ist für den Bezug der Beihilfe aus Österreich oder Deutschland irrelevant. Folglich zahlt Österreich nichts. Für die Kinder wird aus Deutschland das Elterngeld in der Höhe von 388 Euro bezahlt. Das Kindesalter ist irrelevant, da das Kindergeld in Deutschland höher ist als die Familienbeihilfe in Österreich. Selbst, wenn Österreich mehr Familienbeihilfe bezahlt als die Höhe des deutschen Elterngelds beträgt, muss keine Differenzzahlung bezahlt werden, da Österreich in diesem Fall laut Paragraph 2 Artikel 68 der EU-Verordnung 883/2014 nicht verpflichtet ist, etwas zu zahlen.

Anders wäre es freilich, wenn die deutschen Kinder in Österreich leben. Da wäre Österreich vorrangig zuständig und müsste die Familienbeihilfe im vollen Umfang bezahlen. Da in Deutschland die Familienbeihilfe höher ist, müsste das Land aufgrund seiner nachrangigen Zuständigkeit eine Differenzzahlung leisten – natürlich unter der Voraussetzung, dass ein Elternteil in Deutschland lebt.

Nächstes Beispiel:

Ein Kind hat die ungarische Staatsbürgerschaft und lebt in Ungarn bei der Mutter, der Vater lebt in Österreich und arbeitet.

Beide Elternteile wollen Ansprüche geltend machen.

In Ungarn heißt es zum Kindergeld (Családi pótlék): Kind muss im Haushalt der Eltern gepflegt werden mit Ausnahme von Fällen der Abwesenheit aufgrund von Studium oder Krankheit. Die Leistung entfällt, wenn ein Kind über 18 Jahre ein regelmäßiges Einkommen hat. Leistungen sind abhängig vom dauerhaften Wohnsitz der Kinder in Ungarn.

Für eine Familie bekommt man pro Kind in Ungarn 39 Euro. Zwar arbeitet der Vater in Österreich. Allerdings gibt es weder in Ungarn noch in Österreich für die jeweiligen Familienleistungen (ungarisches Kindergeld und österreichische Familienbeihilfe) Ansprüche aufgrund einer Erwerbstätigkeit. Beide Länder haben ausschließlich Wohnortansprüche. Österreich muss daher laut Paragraph 2 Artikel 68 der EU-Verordnung 883/2014 auch keine Differenzzahlung leisten.

Dennoch hat Österreich im Jahr 2017 an 9.092 Kinder, die in Ungarn leben, die volle Familienbeihilfe ausbezahlt.

Ein letztes Beispiel:

Ein Kind im Alter von zehn Jahren lebt in der Slowakei bei der Mutter. Der Vater lebt in Österreich. Beide Elternteile arbeiten. Sowohl Österreich als auch die Slowakei bezahlen Leistungen für Kinder aufgrund der Haushaltszugehörigkeit und nicht aufgrund einer Erwerbstätigkeit. Die Slowakei bezahlt für das zehnjährige Kind 23,68 Euro im Monat. Aus Österreich gibt es wegen Paragraph 2 Artikel 68 der EU-Verordnung 883/2014 keine Differenzzahlung.

Dennoch hat Österreich im Jahr 2017 an 4.891 Kinder, die in der Slowakischen Republik leben, die volle Familienbeihilfe bezahlt.

Zahlreiche Unterschiede in EU-Staaten bei Familienleistungen

Die zahlreichen EU-Mitgliedsstaaten gewähren unter sehr unterschiedlichen Voraussetzungen eine Beihilfe. Grob festhalten werden kann:

In einigen Staaten wird Beihilfe gewährt aufgrund des Einkommens. Andere Staaten – dazu zählt auch Österreich – zahlen die Familienbeihilfe ausschließlich aufgrund des Wohnortes des Kindes, das im jeweiligen Land sich auch aufhalten muss. Es gibt Staaten, die Beihilfen auch aufgrund eines Rentenanspruchs oder auch aufgrund eines (laut Rechnungshof) Arbeitslosengelds gewähren. Es gibt Staaten, die mehr Kindergeld bezahlen, je höher das Einkommen ist. Es gibt aber auch Staaten, die weniger bis gar nichts zahlen, je höher das Einkommen ist. Und es gibt zumindest einen Staat, der unterschiedliche Beiträge bezahlt, die davon abhängen, ob jemand einer Erwerbstätigkeit nachgeht oder nicht. Das heißt, dass einer Person, die arbeitslos wird, eine andere Höhe der Familienleistung aus Österreich zustehen kann.

Allein diese unterschiedlichen Regelungen machen eine Zuordnung, ob jemandem unter welchen Voraussetzungen die volle Familienbeihilfe aus Österreich bzw. eine Differenzzahlung zusteht, äußerst schwierig.

Seit 15 Jahren wird IT-Programm nicht umgesetzt

Seit 2003 beschäftigt sich das Finanzministerium mit der Entwicklung eines IT-Systems mit dem Namen FABIAN. FABIAN hat als Ziel, dass sämtliche Daten (etwa das Zentrale Melderegister – ZMR, die Versicherungsdaten und familienrechtliche Daten des Hauptverbands der Sozialversicherungsträger, das Zentrale Personenstandsregister – ZPR, die Integrierte Fremdenadministration betreffend Aufenthaltstitel und Asylwerber – IFA Bundesministerium für Inneres  sowie die Datenbanken der Schulen und Universitäten und die Lehrlingsdatenbanken der Wirtschaftskammern wie auch eine künftige Studierendendatenbank der Fachhochschulen) vernetzt werden sollen, um Ansprüche auf Familienbeihilfe zu prüfen und gegebenenfalls zu streichen. Es sind 15 Jahre vergangen, und FABIAN scheint noch immer nicht in Umsetzung gegangen zu sein. FABIAN sollte außerdem auch als Möglichkeit dienen, an eine zukünftige europäische Datenaustausch-Struktur angebunden zu werden. Eine solche europäische Struktur gibt es aber nicht.

Statt FABIAN hat Österreich als IT-Programm den “ALF” (IT-Applikation für die antragslose Familienbeihilfe) und DB7. Letztere ist komplett veraltet.

Der Rechnungshof schreibt:

Die Schwächen des IT-Systems schlugen sich auch in eingeschränkten Möglichkeiten für Auswertungen zu Controlling- und Steuerungszwecken nieder: So waren Differenz- und Ausgleichszahlungen, der Mehrkindzuschlag und der Kinderabsetzbetrag nach Wohnort des Kindes und anderen sozioökonomischen Kriterien nicht auswertbar; die Anzahl der leistungsbeziehenden Kinder im Ausland war nur schätzbar, und die Auszahlungen für erhöhte Familienbeihilfe an Kinder im Ausland konnten nicht ausgewertet werden. Ebenfalls nicht gesondert auswertbar waren die Zahlungen, die an andere Staaten aufgrund von Erstattungsersuchen geleistet wurden (dies war der Fall, wenn strittige Sachverhalte auf Basis der EU-Koordinierungsvorschriften später geklärt werden konnten).

EU hat lediglich MISSOC

Auf EU-Ebene gibt es MISSOC, das zumindest aufzeigt, welche Staaten unter welchen Bedingungen gesetzliche Leistungen wie eben auch Beihilfen für Kinder gewähren. Laut Rechnungshof dient den österreichischen Finanzämtern MISSOC als Grundlage für die Auswertung von Beihilfen ins Ausland. Was es aber nicht gibt, ist eine Serviceleistung, die ähnlich eines Unterhaltsrechners oder dem Rechner des Finanzamts zum Familienbonus plus genau aufschlüsselt, unter welchen Bedingungen man EU-weit Anspruch auf Familienleistungen hat und wann nicht – und natürlich wie hoch die zu erwartende Beihilfe ist.

EU hat Bürokratie und Gesetzesflut geschaffen

Mit ihrer wirren Forderung, Ungleiches gleich zu machen, hat die EU in Sachen Familienbeihilfen ein Regelwerk geschaffen, das für Laien kaum noch zu verstehen ist und einen bürokratischen Aufwand schafft. Die EU müsste lediglich die Artikel 67 und 68 der EU-Verordnung 883/2004 ersatzlos streichen und die Welt wäre wieder in Ordnung. Österreich müsste keine Familienbeihilfen ins Ausland zahlen. Es stellt sich rechtlich auch die Frage, warum eine Person nur aufgrund ihres Aufenthalts – sie muss dort nicht einmal erwerbstätig sein –  in einem anderen EU-Staat eine Leistung beanspruchen kann “als ob” auch das Kind in diesem Land leben würde.

Ohne Indexierung: Müssen Väter dann mehr Unterhalt bezahlen?

Stattdessen bekämpft die EU die Indexierung der Familienleistungen, die von Österreich angedacht wird. Da die Familienbeihilfe eine teilweise Refundierung der Unterhaltskosten für Kinder darstellt, die Eltern leisten müssen, muss an folgendes erinnert werden. Ein Elternteil, der für ein im Ausland lebendes Kind Unterhalt bezahlt, hat eine entsprechende Indexierung an die Lebenskosten des jeweiligen Landes (Mischunterhalt). Würde diese Indexierung wegfallen, müssten im Umkehrschluss unterhaltspflichtige Väter in diverse Staaten um ein Vielfaches mehr überweisen. Spätestens dann hat die EU einen Aufstand.

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