Das nach dem Ersten Weltkrieg von Österreich abgetrennte Südtirol hat den österreichischen Nationalrat in der Zweiten Republik enorm beschäftigt. Der Autor Hubert Speckner, ein ausgewiesener Südtirol-Experte, hat alle Debattenbeiträge, Anträge und Anfragen aus 75 Jahren aufgearbeitet. Bei der Präsentation des fast 4.000 Seiten umfassenden, vierbändigen Werks mit dem Titel „‘Herzenssache‘ Südtirol“ diskutierten die aktuellen Südtirol-Sprecher der fünf Parlamentsparteien über den heutigen Status. Schnell wurde klar, dass der abgetrennte Tiroler Landesteil nicht mehr allen gleichermaßen ein Anliegen ist. Das Wort Selbstbestimmung kam in der Diskussion nur wenigen über die Lippen.
Stürmischer Applaus für Leopold Figls „Herzenssache“
Der Begriff „Herzenssache“ in Zusammenhang mit Südtirol geht auf Leopold Figl zurück, der in seiner ersten Rede als Bundeskanzler am 21. Dezember 1945 den Landesteil südlich des Brenners als „für uns kein Politikum, sondern eine Herzenssache“ bezeichnete und dafür im Parlament, wie im Protokoll der Sitzung vermerkt ist, „stürmischen, lang anhaltenden Beifall und Händeklatschen im Hause und auf den Galerien“ erntete. Mit dieser Rede beginnt Hubert Speckners umfangreiche Spurensuche in den Akten und Protokollen des Hohen Hauses, die 1.320 parlamentarische Äußerungen umfasst. Das Werk kann zum Preis von 80 Euro beim Südtiroler effekt-verlag bezogen werden.
Vom Freiheitskampf zur Autonomie und Streitbeilegung
Trotz Unterzeichnung des Gruber-De-Gasperi-Abkommens 1946 und des Ersten Autonomietstatus von 1948 missachtete Italien konsequent die Rechte der deutsch- und ladinischsprachigen Südtiroler. Diese wehrten sich in den späten fünfziger und sechziger Jahren in einem Freiheitskampf mit Attentaten vor allem auf Einrichtungen der Infrastruktur. Höhepunkt war 1961 die Feuernacht, in der in der Region Bozen 42 Strommasten gesprengt wurden. Der Widerstand stoppte die gezielte Italianisierung Südtirols und rang Italien das Südtirol-Paket mit dem zweiten Autonomiestatut ab, das 1972 unterzeichnet und Schritt für Schritt umgesetzt wurde, was 1992 zur Streitbeilegungserklärung Österreichs gegenüber Italien vor den Vereinten Nationen führte.
ÖVP fiel bei Doppel-Staatsbürgerschaft um
Unter der türkis-blauen Regierung sollte mit dem Angebot der Doppel-Staatsbürgerschaft an deutsche und ladinische Südtiroler ein weiterer wichtiger Schritt der Zusammenführung mit der Heimat Österreich gesetzt werden. Doch die ÖVP, die nach der Aufkündigung dieser Zusammenarbeit in einer neuen Koalition mit den Grünen weiterhin den Kanzler stellte, will seither von diesem Projekt nichts mehr wissen. Ihr Südtirol-Sprecher Hermann Gahr erwähnte in der Podiumsdiskussion anlässlich der Buchvorstellung weder die Doppelstaatsbürgerschaft noch die längst überfällige Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der Südtiroler auch nur mit einem Wort. Ebenso nichtssagend gegenüber den unter Fremdherrschaft stehenden Landsleuten äußerte sich Neos-Mandatar Helmut Brandstätter, der generell einer europäischen Staatsbürgerschaft den Vorzug gibt.
Nur FPÖ und Grüne(!) stehen zum Selbstbestimmungsrecht
Selbst die Vertreter der Linksparteien SPÖ und Grüne maßen der Schutzfunktion Österreichs für die Minderheit einen höheren Stellenwert bei. SPÖ-Mandatarin Selma Yildirim ortete bei ihrem letzten Zusammentreffen mit Politikern aus Südtirol eine „berührende Erwartungshaltung“ und mahnte Wachsamkeit hinsichtlich der Entwicklung der Minderheitenrechte in Italien ein. Auch der Grüne Hermann Weratschnig stellte die Wahrung der Minderheitenrechte ins Zentrum der österreichischen Interessen. Österreich müsse aber auch darüber hinaus zur Verfügung stehen. „Wenn Südtirol uns mitteilt, dass es sein Selbstbestimmungsrecht wahrnehmen will, muss Österreich seine Schutzfunktion ausüben“, stellte Weratschnig klar und war damit neben dem freiheitlichen Südtirol-Sprecher Peter Wurm der einzige Abgeordnete, der das Wort „Selbstbestimmung“ in den Mund nahm.
FPÖ wünscht sich einiges Tirol: „Ihr seid herzlich willkommen!“
Wurm teilte die Ansicht, dass die Wahrnehmung der Selbstbestimmung von Südtirol ausgehen müsse, und setze dahinter die Botschaft: „Ihr seid herzlich willkommen!“ Tirol solle auf friedlichem Wege wieder eins werden, wünschte sich der FPÖ-Politiker und kritisierte die ÖVP, weil sie sich vom Projekt der Doppel-Staatsbürgerschaft wieder distanziert habe. Es gebe nach wie vor einen aufrechten Beschluss des Nationalrats, die Doppel-Staatsbürgerschaft umzusetzen. Dass es Österreich nicht einmal im Einzelfall der 104-jährigen Hermine Orian schaffe, ihr den Herzenswunsch der österreichischen Staatsbürgerschaft zu erfüllen, ist für Wurm eine Schande.