Während der bekannte katholische Intellektuelle Roberto de Mattei und der Kirchenhistoriker und katholische Kardinal Walter Brandmüller die Ursachen für die sexuellen Missbrauchsskandale durch Kleriker bei der homosexuellen Neigung der Täter verorten, sieht der ehemalige Papst Benedikt XVI. den Ausgangspunkt dazu in der sexuellen Revolution der 1960er Jahre.
Werteverschiebung in westlichen Gesellschaften
Diese Einschätzung teilte Joseph Ratzinger in einem Aufsatz für das Klerusblatt mit. Am Donnerstag druckte auch die wichtigste italienische Tageszeitung, Corriere della Sera, die von Papst Franziskus genehmigte Stellungnahme Benedikts ab. Demnach erklärt Benedikt, wie es seiner Meinung nach zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche in einem solchen Ausmaß kommen konnte, damit, dass in den Jahren 1960 bis 1980 “die bisher geltenden Maßstäbe in Fragen Sexualität vollkommen weggebrochen” seien.
Vor allem in der westlichen Gesellschaft gehe das “Maß des Menschlichen immer mehr verloren”. Was eigentlich böse ist, sei mittlerweile geradezu selbstverständlich geworden. So sei das auch mit der Pädophilie.
Gott als Minderheitenprogramm
Darüber hinaus fehle laut Benedikt heute die Anwesenheit Gottes:
Auch wir Christen und Priester reden lieber nicht von Gott, weil diese Rede nicht praktisch zu sein scheint. Nach der Erschütterung des 2. Weltkriegs hatten wir in Deutschland unsere Verfassung noch ausdrücklich unter die Verantwortung vor Gott als Leitmaß gestellt. Ein halbes Jahrhundert später war es nicht mehr möglich, die Verantwortung vor Gott als Maßstab in die europäische Verfassung aufzunehmen.
Gott als Privatangelegenheit einer Minderheit
Gott werde laut Benedikt als Parteiangelegenheit einer kleinen Gruppe angesehen und stehe nicht mehr als Maßstab für die Gemeinschaft im ganzen. In diesem Entscheid spiegle sich die Situation des Westens, in dem Gott eine Privatangelegenheit einer Minderheit geworden ist. Für Benedikt konnte es deshalb erst zum moralischen Relativismus mit all seinen Problemen und Verwerfungen kommen.
“Was die derzeitige Kirchenführung – vor, während und nach dem Gipfel im Vatikan vom 21. bis 24. Februar – nicht imstande war, über den Missbrauchsskandal zu sagen, hat nun der ,emeritierte Papst’ Benedikt XVI. gesagt und geschrieben,” meint der Vatikanist Sandro Magister.