Das gab es in der Zweiten Republik bisher noch nicht: In der heute, Montag, stattgefundenen Sondersitzung des Nationalrats wurde Kanzler Sebastian Kurz und seiner erst seit Mittwoch im Amt befindlichen ÖVP-Minderheitsregierung das Vertrauen entzogen. Damit ist die Regierung entlassen, Bundespräsident Alexander Van der Bellen ist nun damit betraut, eine Übergangsregierung zu benennen, die bis zu den Neuwahlen im September die Staatsgeschäfte übernimmt.
Angekündigte Revolution fand statt
Angekündigt hatte sich das Kurz-Debakel bereits am Freitag: Der designierte FPÖ-Bundesparteichef Norbert Hofer kündigte bei seiner bewegenden Rede zum EU-Wahlkampfabschluss am Wiener Viktor-Adler-Markt an, jene im Publikum, die Kurz weghaben wollten, “werden am Montag an mich denken”. Ging es zunächst noch um einen Misstrauensantrag nur gegen Kurz durch die Liste Jetzt, beschloss das SPÖ-Parteipräsidium am Sonntag Abend, der gesamten Kurz-Regierung das Vertrauen zu entziehen, wie unzensuriert schon heute Früh ausführlich berichtete.
Kurz hat Schwächung der FPÖ ausgenutzt
Die Debatte im Nationalratsplenum ab 13.00 gestaltete sich sehr emotional. Der neue geschäftsführende FPÖ-Klubobmann Herbert Kickl etwa beklagte, dass über 18 Monate hinweg eine gute, fast schon freundschaftliche Atmosphäre die Koalitionsarbeit geprägt habe, “das war das Fundament unserer Arbeit”. Kaum aber habe die FPÖ durch das unglückliche “ibiza-Video” kurz Schwäch gezeigt, habe Kurz sein wahres Gesicht gezeigt und die Machtpolitik der alten ÖVP hervorgekehrt. Es sei Kurz nur um das Innenministerium gegangen, das er wieder in schwarzer Hand sehen wollte.
“Erfolgreiche Regierung leichtfertig auf s Spiel gesetzt”
Ins gleiche Horn stieß der designierte FPÖ-Bundesparteichef und neue Klubobmann Norbert Hofer, der erklärte, dass durch Kurz “eine beliebte und erfolgreiche Regierung leichtfertig auf s Spiel gesetzt worden ist.” Es sei sehr schade, dass eine Koalition, die so viel für Österreich weitergebracht habe, nicht mehr dazu gekommen sei, noch viele weitere, wichtige Projekte zu realisieren.
Fadenscheiniges Argument zur Kickl-Abberufung
Der ehemalige Infrastrukturminister und Regierungskoordinator widerlegte auch Kurz Begründung, warum er unbedingt Herbert Kickl als Innenminister loswerden wollte, nämlich weil dieser als Generalsekretär zur Zeit der Herstellung des “Ibiza-Videos” für die Parteifinanzen der FPÖ verantwortlich gewesen sein soll und nicht “gegen sich selbst “könne. “Kickl hatte damit nichts zu tun, das macht bei uns der Finanzreferent”, erklärte Hofer. Zudem gebe es bis heute keine “Ermittlungen” über angebliche finanzielle Ungereimtheiten bei der FPÖ.
Liste Jetzt stärkte FPÖ moralisch den Rücken
Ungewollte Unterstützung erhielt die FPÖ ausgerechnet vom Liste-Jetzt-Abgeordneten Alfred Noll: Er argumentierte den Misstrauensantrag gegen Kurz damit, dass dieser durch das Eingehen der türkis-blauen Koalition eine Art “Vertragsverpflichtung” gegenüber den Blauen eingegangen wäre, die Kurz danneinseitig gebrochen habe. Dies offenbare “mangelnde Fairness gegenüber einem demokratisch gewählten Bündnispartner”. Oder, wie es SPÖ-Abgeordneter Jörg Leichtfried formulierte: “Das türkis-blaue Experimant ist gescheitert, und Kanzler Kurz trägt dafür die Verantwortung.”
Kurz pflegte “Sippenhaftung” für FPÖ nach Ibiza-Video
Kurz selbst beklagte, dass der Misstrauensantrag der SPÖ sich nicht nur auf seine Person, sondern gleich auf die ganze Regierung ausdehne – und vergaß dabei offensichtlich, dass er das Gleiche mit der FPÖ gemacht hatte. Nach klarem Versagen von zwei FPÖ-Politikern hat er die ganze Partei in “Sippenhaft” genommen und die Zusammenarbeit aufgekündigt, wie es Herbert Kickl auf den Punkt brachte.
Bures verkündete Regierungsauflösung
Nachdem sich die FPÖ dem Misstrauensantrag der SPÖ angeschlossen hatte, wurde der Kurz-Minderheitsregierung mit den Stimmen von SPÖ, FPÖ und Liste Jetzt das Vertrauen entzogen; die Zweite Nationalratspräsidentin Doris Bures verkündete gegen 16.20 Uhr die Regierungsauflösung. Nun ist Bundespräsident Alexander Van der Bellen am Zug, der als erstes Staatsoberhaupt eine neue Bundesregierung benennen muss.
Wahlkampf jeder gegen jeden
Für die bevorstehenden Neuwahlen nach dem Sommer bedeuten die Vorgänge der letzten zehn Tage gar nichts Gutes. Eine Vertiefung der Zusammenarbeit zwischen SPÖ und FPÖ ist trotz des gemeinsamen Vorgehens heute nicht zu erwarten. Sollte Kurz die ÖVP im ab jetzt laufenden Wahlkampf neuerlich anführen, bieten sich als potentielle Koalitionspartner – aus heutiger Sicht – nur die Neos an, die als einzige heute nicht gegen Kurz gestimmt hatten. Ob das für eine Mehrheit reicht, bleibt abzuwarten. Alles ist möglich, aber nix is fix, wie es Rainhard Fendrich formulieren würde.