Unzensuriert.at berichtet immer wieder über die leidigen EU-Gesetze, laut denen ein Staat Familienleistungen für ein Kind bezahlen muss, das in einem anderen Staat wohnhaft ist. Die Gerichte reagieren in ihrer Rechtsprechung vollkommen unterschiedlich, was zu Rechtsunsicherheiten führt.
Unzählige Streitfälle bei geschiedenen Familien
Nun soll ein weiterer Aspekt beleuchtet werden, bei dem die Rechtsprechung sehr umfangreich ist. Leben Eltern geschieden oder getrennt, steht in Österreich die Familienbeihilfe in der Regel jenem Elternteil zu, bei dem das Kind wohnt. Wohnt allerdings das Kind nicht Österreich, führen die EU-Gesetze zu einer Ungleichbehandlung, da sie die Möglichkeit eröffnen, dass der andere Elternteil, der in Österreich wohnt, die Familienbeihilfe bekommen kann. Dies nämlich dann, wenn er nachweisen kann, dass er überwiegend Unterhalt für das Kind bezahlt.
Grundsätzlich regelt das Familienlastenausgleichsgesetz (FLAG) die Anspruchsvoraussetzungen für die Familienbeihilfe.
Und in § 2 Abs. 2 FLAG heißt es:
Anspruch auf Familienbeihilfe für ein im Abs. 1 genanntes Kind hat die Person, zu deren Haushalt das Kind gehört. Eine Person, zu deren Haushalt das Kind nicht gehört, die jedoch die Unterhaltskosten für das Kind überwiegend trägt, hat dann Anspruch auf Familienbeihilfe, wenn keine andere Person nach dem ersten Satz anspruchsberechtigt ist.
Egal, wie hoch der Unterhalt ist, der andere Elternteil bekommt das Geld. Das heißt, dass selbst wenn ein Elternteil überwiegend oder zur Gänze Unterhalt bezahlt und der andere Elternteil, bei dem das Kind wohnt, arbeitslos ist und daher kein Einkommen hat, die Familienbeihilfe nicht dem unterhaltszahlenden Elternteil zusteht. Nur wenn das Kind bei keinem Elternteil wohnt, etwa, weil es auszieht aber noch kein Einkommen hat, bekommt die Familienbeihilfe jener Elternteil, der überwiegend Unterhalt bezahlt.
EU-Gesetze haben andere Regeln
Gibt es allerdings einen grenzüberschreitenden Sachverhalt mit einem EWR-Staat, der Schweiz oder dem Vereinigten Königreich, kommt das Unionsrecht zur Anwendung. Konkret die VERORDNUNG (EG) Nr. 883/2004 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, die seit 1. Mai 2010 zusammen mit ihrer Durchführungsverordnung 987/2009 gilt. Zuvor galt die EU-Verordnung 1408/71 mit der VO 574/72.
EuGH gab Anstoß
Auslöser des Sachverhalts war der Europäische Gerichtshof (EuGH) in den Rechtsachen C-255/99 Anna Humer und C‑363/08 Romana Slanina. Die Sache Humer ist nur indirekt relevant, weil es hier um Unterhaltsvorschüsse gegangen ist, die einem Kind zustehen, wenn dieses mit einem Elternteil in einen anderen Mitgliedsstaat gezogen ist und der andere in Österreich wohnhaft und geschiedene Elternteil seiner Unterhaltsverpflichtung nicht nachkommt. Seit der VO 883/2004 gelten aber Unterhaltsvorschüsse nicht mehr als Familienleistungen.
Im Fall Slanina wiederum forderte das Finanzamt die Familienbeihilfe für eine der Töchter der Mutter zurück. Anfangs lebte die Frau mit dem Ehemann in Österreich und bekam die Familienbeihilfe. Allerdings kam es zur Scheidung, was die Mutter veranlasste, mit dem Kind nach Griechenland zu ziehen. Dort ging sie keiner Beschäftigung nach. Sie bezog weiterhin von Österreich die Familienbeihilfe. Der geschiedene Ehegatte blieb in Österreich, war dort erwerbstätig, kam allerdings seiner Unterhaltsverpflichtung für sein Kind nicht nach. Das Finanzamt war der Ansicht, dass die Mutter die Familienbeihilfe nicht zustünde, seit sie nach Griechenland gezogen war.
EU-Regeln gelten auch für geschiedene Eltern
Der EuGH hat in seinem Urteil betont, dass der Anspruch auf Familienleistungen bestehen bleibt, wenn Eltern sich scheiden oder getrennt leben und ein Elternteil mit dem Kind in einen anderen Staat zieht, aber der andere Elternteil (der nicht von Österreich wegzieht) beschäftigt bleibt. Und der Verwaltungsgerichtshof entschied aufgrund des EuGH-Urteils, in der Rechtssache (abrufbar unter GZ 2009/15/0204), dass die Rückforderung der Familienbeihilfe (samt Kinderabsetzbetrag) zu Unrecht erfolgt sei. Damals galt noch die Vorgängerverordnung der aktuellen EU-VO 883/2004 – die EU-VO 1408/71.
Verwaltungsgerichtshof gibt überwiegenden Unterhaltszahlern recht
In einem weiteren Erkenntnis (GZ 2004/15/0049) sprach der Verwaltungsgerichtshof der in Spanien wohnhaften Mutter die Familienbeihilfe für ihre drei Kinder zu, da u.a. die Vorgänger-Instanz nicht geprüft habe, ob der geschiedene und erwerbstätige Vater in Österreich überwiegend Unterhalt bezahlt hat.
Der Verwaltungsgerichtshof hat allerdings in einem ähnlichen Verfahren anders entschieden. In der Rechtsache GZ 2009/15/0207 forderte ein in Österreich beschäftigter Vater die Differenzzahlung der Familienbeihilfe für seine in Frankreich wohnhaften Kinder. Im Gegensatz zur Rechtsache Slanina machte der getrennt lebende Vater geltend, dass er überwiegend und faktisch zur Gänze den Unterhalt geleistet hatte.
Das Finanzamt lehnte seinen Antrag ab und meinte, dass ein von der Familie getrenntlebender Elternteil wie der Mitbeteiligte keinen Anspruch auf österreichische Familienbeihilfe habe, auch wenn er überwiegend Unterhalt leistete. Die Haushaltszugehörigkeit der Kinder zum anderen Elternteil im EU-Ausland gehe vor. Die Betreuung der Kinder durch den haushaltszugehörigen anderen Elternteil stelle nämlich eine vermögenswerte Leistung dar, durch welche der Unterhaltsbeitrag geleistet werde.
Allerdings wird in der EU-VO 1408/71 der Begriff „Familienangehöriger“ definiert als:
…jede Person, die in den Rechtsvorschriften, nach denen die Leistungen gewährt werden, oder in den Fällen des Artikels 22 Absatz 1 Buchstabe a) und des Artikels 31 in den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet sie wohnt, als Familienangehöriger bestimmt, anerkannt oder als Haushaltsangehöriger bezeichnet ist; wird nach diesen Rechtsvorschriften eine Person jedoch nur dann als Familienangehöriger oder Haushaltsangehöriger angesehen, wenn sie mit dem Arbeitnehmer oder dem Selbständigen oder dem Studierenden in häuslicher Gemeinschaft lebt, so gilt diese Voraussetzung als erfüllt, wenn der Unterhalt der betreffenden Person überwiegend von diesem bestritten wird.
Der Verwaltungsgerichtshof entschied zugunsten des Vaters
Im Entscheidungstext lautet es u.a.:
Bei einer Konstellation, wie sie dem gegenständlichen Fall zu Grunde liegt, steht der Anspruch auf Familienbeihilfe – oder gegebenenfalls bloß Ausgleichszahlung nach § 4 Abs. 2 FLAG 1967 – (allein) dem in Österreich verbliebenen Elternteil zu, wenn er iSd § 2 Abs. 2 FLAG 1967 überwiegend den Unterhalt zahlt. Die Rz 32 des Urteils des EuGH Romana Slanina steht dem nicht entgegen, betraf diese Urteil doch den Fall der Rückforderung von Familienbeihilfe, die an die haushaltsführende Mutter für Kinder gewährt worden ist, deren unterhaltspflichtiger Vater seiner Unterhaltspflicht nicht nachgekommen ist.
Der Unabhängige Finanzsenat hat im Jahr 2012 in der Rechtssache RV/3059-W/12 eine Entscheidung gefällt, die die aktuelle EU-VO 883/2004 betrifft. In diesem Fall war der geschiedene Vater ebenfalls in Österreich beschäftigt, während die Mutter, die mit den beiden Töchtern in Polen wohnhaft war, keiner Beschäftigung nachging. Der Vater bezahlte den gesetzlichen Unterhalt. Ihm wurde die Familienbeihilfe zugesprochen. So heißt es in der Gerichtsentscheidung:
Selbst ohne Berücksichtigung der unterschiedlichen Kaufkraft in Polen wird der (österreichische) Regelbedarf mit den tatsächlichen Alimentationszahlungen überschritten. Der Kindesvater kommt demnach überwiegend (allein) für den Unterhalt der Kinder auf, mit der Folge, dass ihm die österreichische Familienbeihilfe zusteht.
Nur dann, wenn der Unterhaltsverpflichtung nicht nachgekommen werden würde, würde der Anspruch des Kindesvaters auf die Kindesmutter übergehen (EuGH-Urteil “Slanina” vom 26.11.2009, C-363/08). Dies trifft im gegenständlichen Fall aber It. vorstehendem Absatz nicht zu.
In drei weiteren Fällen waren die geschiedenen Väter ebenfalls in Österreich wohnhaft und erwerbstätig. In allen drei Fällen, den Rechtsachen RV/0118-I/08 (Mutter lebt mit Kindern in Deutschland), RV/0657-W/09 (Mutter lebt mit dem Sohn in der Slowakei) und RV/2471-W/12 (Mutter lebt mit Kindern in Italien) wurde den Vätern aufgrund der nachweislich überwiegenden Tragung der Unterhaltskosten die Familienbeihilfe zugesprochen. Die in Italien wohnhafte Mutter hatte demnach mehr als 9.400 Euro an Familienbeihilfe zu Unrecht bezogen.
Fall Trapkowski ändert Rechtsprechung
Seit dem EuGH-Urteil in der Rechtssache Tomislaw Trapkowski C‑378/14 kam es allerdings zu einem Umdenken. Herr Trapkowski war im Streitfall in Deutschland wohnhaft, aber nicht durchgängig erwerbstätig. Für den Zeitraum Jänner 2011 bis Oktober 2012 beantragte er für sein in Polen wohnhaftes Kind das Kindergeld. In dem betreffenden Zeitraum bezog die Kindesmutter, die in Polen einer Erwerbstätigkeit nachging, keine Familienleistungen nach deutschem oder polnischem Recht und hatte sie auch nicht beantragt. In Polen hätte sie aufgrund der Einkommensgrenze auch keinen Anspruch auf dortige Leistungen gehabt.
Der EuGH meint in seinem Urteil, dass nicht unbedingt jener Elternteil einen Anspruch auf Familienleistungen hat, weil er einen Antrag eingebracht hat und der andere Elternteil nicht. Und er hält fest, dass der Anspruch auf Familienleistungen einer Person zusteht, die nicht in dem Mitgliedsstaat wohnt, der für die Gewährung dieser Leistungen zuständig ist, sofern alle anderen durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen für die Gewährung erfüllt sind.
Deutschland entscheidet gegen Unterhaltszahler
In Folge gab der Bundesfinanzhof als deutsches Höchstgericht im Urteil III R 17/13 der Mutter recht. Gemäß der EU-Gesetze sei zu fingieren, dass die geschiedene Ehefrau des Klägers zusammen mit dem gemeinsamen Kind in einem eigenen Haushalt in Deutschland lebt. Damit ist sie vorrangig kindergeldberechtigt, solange die Anspruchsvoraussetzungen dem Grunde nach in der Person des Vaters erfüllt sind. Diesem steht der Anspruch auf Kindergeld im streitigen Zeitraum nicht zu.
Aufgrund dieser Entscheidungen haben in Österreich das Finanzamt und das Bundesfinanzgericht (als Nachfolger des Unabhängigen Finanzsenats) begonnen, ihre Rechtsansicht zu ändern, obwohl die Frage des überwiegenden Unterhalts in Deutschland kein Thema war.
Argumentiert wird, dass die Rechtsprechung des EuGH bedeutete, dass jener Elternteil, der mit dem Kind nicht in Österreich wohnt, fiktiv so zu behandeln sei, als würden sie in Österreich wohnen, weshalb auch die österreichischen Gesetze anzuwenden seien. Daher stünde die Familienbeihilfe jenem Elternteil zu, bei dem das Kind wohnt und nicht dem Elternteil, der überwiegend Unterhalt bezahlt.
Bundesfinanzgericht gegen Verwaltungsgerichtshof
Im Erkenntnis RV/7105336/2016 bei dem der in Österreich wohnhafte und geschiedene Vater Unterhalt für seine zwei Kinder bezahlte, die mit der Mutter in Bulgarien wohnhaft sind, meinte das Gericht, dass es belanglos sei, ob der Vater den Unterhalt der Kinder überwiegend bestritten hat. Es bedürfe keiner Klärung seitens des Gerichts. Ähnlich im Erkenntnis RV/7101188/2019, bei dem es über die überwiegende Kostentragung wie folgt heißt: „Keine Entscheidungsrelevanz.“
Rechtsprechung der höchsten Instanz „überholt“
Im Erkenntnis RV/7102814/2017 heißt es vom Bundesfinanzgericht sogar, dass die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs, dass eine überwiegende Kostentragung eine Voraussetzung sein kann, um einen Differenzzahlungsanspruch der Familienbeihilfe zu haben, angesichts der EuGH-Rechtsprechung „überholt“ sei. Weder im Unionsrecht, noch im innerstaatlichen Recht sei die Ansicht gedeckt. Das Bundesfinanzgericht schreibt sogar von einer Diskriminierung.
Doch es folgte die Retourkutsche des Verwaltungsgerichtshofes. Ein polnischer geschiedener Vater, der in Polen wohnhaft ist, aber in Österreich arbeitet, beantragte die Differenzzahlung der Familienbeihilfe für seinen Sohn, der bei der Mutter wohnt. Er meinte, dass er überwiegend Unterhalt bezahle. Das Bundesfinanzgericht entschied in der Rechtsache RV/7100050/2016 erwartungsgemäß, dass der Mutter die Familienleistung zustünde. Allerdings brachte der Pole eine Revision beim Verwaltungsgerichtshof ein.
Verwaltungsgerichtshof widerspricht Bundesfinanzgericht
Der Verwaltungsgerichtshof betont, dass er stets klargestellt habe, dass jener Elternteil, der überwiegend Unterhalt bezahle, einen Anspruch auf die Familienbeihilfe habe. Zwar verneine das Bundesfinanzgericht diese Ansicht aufgrund des EuGH-Urteils Trapkowski. Der Verwaltungsgerichtshof hat jedoch bereits im Erkenntnis Ra 2019/16/0133 klargestellt, dass seine Rechtsprechung nicht überholt sei.
Nationales Recht, das im Widerspruch zum Unionsrecht stehe, werde durch das Unionsrecht verdrängt. Im Wesentlichen betonte der Verwaltungsgerichtshof, dass die überwiegende Kostentragung des in Österreich arbeitenden Elternteils Vorrang gegenüber dem anderen Elternteil habe, der mit dem Kind nicht in Österreich wohnt. Die deutsche Rechtsprechung ändere daran nichts, da Deutschland andere Gesetze habe.
Bundesfinanzgericht gibt nach
Der Fall landete wieder beim Bundesfinanzgericht, dessen Erkenntnis RV/7101702/2021 ein regelrechter Roman ist. Letztendlich wurde festgehalten, dass der Vater überwiegend Unterhalt für sein Kind bezahlt hatte. Deswegen stehe ihm die Familienbeihilfe zu und nicht der Mutter.
Dessen ungeachtet muss festgehalten werden, dass, wenn beide Eltern und das Kind in Österreich wohnhaft sind, die überwiegende Kostentragung weiterhin keine Relevanz hat. Es gibt somit eine Ungleichbehandlung, eine Diskriminierung. Die Diskriminierung gibt es in doppelter Hinsicht, da etwa Deutschland andere Regelungen hat und daher offen bleibt, wenn es einen Rechtsstreit gibt, bei dem ein Elternteil die Familienbeihilfe fordert, aber der andere das Kindergeld. Gehen beide jeweils zu den Gerichten ihres Staats bekommen beide Recht, und es gibt eine Pattstellung.
Abschließend sollte die Frage erlaubt sein, ob es wirklich gerecht ist, dass ein Elternteil keinen Anspruch auf die Familienbeihilfe hat, obwohl dieser für sein Kind überwiegend Unterhalt bezahlt, dafür aber der andere Elternteil, bei dem das Kind wohnt, kein Einkommen hat, womöglich von der Mindestsicherung lebt, diese Leistung bekommt.