Formal zwar als Bundeskanzler abgetreten, aber alle Fäden weiter in der Hand und gegen weitere Enthüllungen durch die parlamentarische Immunität geschützt, will Sebastian Kurz bei nächster Gelegenheit wie Phönix aus der Asche wieder durchstarten. Doch da gibt es, neben den strafrechtlichen Ermittlungen, noch ein anderes großes Problem.
Ramponierter Hohepriester
Es ist die verlorene Glaubwürdigkeit, die die Rechnung von Kurz nicht aufgehen lassen könnte. Denn kaum ein anderer Politiker der jüngsten Vergangenheit hat mit seiner Attitüde, seiner an Predigten erinnernden Sprache und seiner moralisierenden Rhetorik vor allem eine Wirkung erzielt: Man glaubte ihm.
Man glaubte ihm, dass er die Balkan-Route geschlossen hat, also die illegale Einwanderung in deutsche Länder unterbunden hätte. In Wahrheit war es Ungarns Premierminister Viktor Orbán, der im August 2015 anfing, einen Grenzzaun Richtung Serbien zu errichten und ihn später Richtung Kroatien ausdehnte.
Asylzahlen explodieren
Man glaubte und glaubt ihm, dass er die (illegale) Einwanderung von Orientalen und Afrikanern verhindert oder zumindest bremst. In Wahrheit gab es heuer allein im ersten Halbjahr 86 Prozent mehr Asylanträge als im Jahr zuvor. Erst im September stimmten die ÖVP-Abgeordneten im Europäischen Parlament für die weitere Aufnahmen von Afghanen.
Man glaubte ihm, aus der alten, mutmaßlich verfilzten ÖVP die „neue ÖVP“ gemacht zu haben. In Wahrheit hat Kurz das System aus skrupellosem Machtwillen nur perfektioniert.
Enttäuschte Liebe
Kurz inszeniert sich nun als Märtyrer, der Staatsräson über Parteiräson stellt, das Wohl des Landes und nicht sein eigenes im Auge hätte. Aber seine Glaubwürdigkeit ist beschädigt, denn die bekanntgewordenen Chats zeichnen das Bild eines Machtmenschen, der keine Moral, keine Heimatliebe und keine Werte hat außer seinen eigenen, persönlichen Erfolg.
Das ist eine bittere Pille für alle, die an ihn geglaubt haben. Und enttäuschte Liebe sitzt tief.