In der Süddeutschen Zeitung (SZ) hat der frühere ÖVP-Parteichef und Vizekanzler Reinhold Mitterlehner, der von Sebastian Kurz nach eigenen Aussagen auf unschöne Art und Weise gestürzt wurde, ein bemerkenswertes Interview gegeben. Es war klar, dass Mitterlehner kein Loblied auf seinen Nachfolger singen wird, doch die Heftigkeit der Aussagen überraschten dann doch.
“Höhepunkt einer Entwicklung, die sich schon länger abzeichnet”
Mitterlehner wurde vom Journalisten gefragt:
Was hat Sie, als der Beschuldigtenstatus von Sebastian Kurz wegen möglicher Falschaussagen im Ibiza-Ausschuss bekannt wurde, mehr überrascht: Dass die Staatsanwaltschaft tatsächlich diese Anklage vorbereitet? Oder dass der Bundeskanzler gesagt hat, er werde keinesfalls zurücktreten?
Darauf Mitterlehner:
Ich bin nicht wirklich überrascht. Die strafrechtlichen Ermittlungen sind für mich der Höhepunkt einer Entwicklung, die sich schon länger abzeichnet. Es fehlt an Respekt gegenüber demokratischen und rechtlichen Institutionen. Neu, aber nicht überraschend ist für mich, dass sich der Kanzler mit der Bewertung, er habe ein “reines Gewissen”, gleichermaßen selbst die Absolution erteilt, also jedenfalls im Amt bleiben will. Das finde ich schon im Hinblick auf den Ethik-Kodex der Partei nicht sonderlich stimmig.
Mitterlehner kann Opferrolle von Kurz nicht nachvollziehen
Dass sich Kurz nun als Opfer einer Kampagne der Parteien Neos und SPÖ sehe, deren Anliegen die Staatsanwaltschaft nun willfährig ausführe, kann Mitterlehner nicht nachvollziehen. Der Staatsanwaltschaft gehe es darum, ob mit Blick auf die Chefpostenbesetzung bei der Staatsholding ÖBAG eine politische Einflussnahme seitens des Bundeskanzlers gegeben war. Und angesichts der Widersprüche, die sich da offenbar ergeben hätten, könne es sich nicht um die Selbsteinschätzung oder Meinung des Kanzlers, sondern nur um objektive Sachverhalte gehen. Deren Qualifikation sei Sache eines Rechtsorgans und nicht Kompetenz eines Politikers.
Politiker im Ausland “entsetzt”
Der Reporter der Süddeutschen Zeitung stellte zudem fest, dass die Politiker auch im Ausland über den Beschuldigtenstatuts von Kurz „entsetzt“ seien. Und auf die Frage, ob Kurz Mitterlehner damals, als er hinter seinem Rücken das Projekt „Ballhausplatz“ vorantrieb, angelogen habe, meinte Mitterlehner:
Es war ein zumindest ein problematischer Umgang mit der Wahrheit. Er hat die Arbeit der Partei mit einem Schattenteam hintergangen und uns, nachdem er Streit in die Partei trug, vorgeworfen, dass unsere Umfragewerte fallen.
Ermittlungen haben Leumund des Kanzlers beschädigt
Mitterlehner glaubt, dass die Ermittlungen den Leumund des ÖVP-Kanzlers beschädigt hätten. Mit Sorge, so Mitterlehner, sehe er aber auch, dass der Parlamentspräsident vorgeschlagen hat, die Wahrheitspflicht im Untersuchungsausschuss abzuschaffen. Man nehme hier den Rechtsstaat und seine Regeln zwar als gegeben, aber sehe ihn nicht zwingend als bindend für die eigene Partei an. Mitterlehner gegenüber der SZ:
Wenn Kurz sagt, dass es bei Urteilen des Verfassungsgerichts nur um “juristische Spitzfindigkeiten” gehe oder wenn er Hunderte Mitarbeiter anweist, sie mögen bitte im Namen des Kanzleramts eine Erklärung über nicht existente Dokumenten abgeben, dann werden rechtliche Erfordernisse und Grundlagen schlicht negiert. Auch dass der Bundespräsident vom Verfassungsgericht um Unterstützung gegenüber dem Finanzminister angerufen werden muss, ist mehr als irritierend.
“ÖVP hat Untersuchungs-Ausschuss unterschätzt”
Die ÖVP, so Mitterlehner in dem SZ-Interview, habe habe den Untersuchungs-Ausschuss stark unterschätzt. Sie habe versucht, auf Zeit zu spielen. Immer, wenn ein schwieriges Thema im Ausschuss aufgepoppt sei, habe die Regierung ein anderes Thema gesetzt, um die eigenen Probleme zu überspielen. Auf Dauer aber nütze sich das ab.
Mitterlehners Tipp: “Bei Anklage soll Kurz sein Amt ruhend stellen”
Zum Schluss fragt der Journalist Mitterlehner noch, was er Kurz raten würde, sollte er tatsächlich angeklagt werden? Darauf antwortete der frühere ÖVP-Parteichef so:
Ich würde ihm raten, sein Amt ruhen zu lassen, bis die Angelegenheit entschieden ist. Es gilt die Unschuldsvermutung und es wäre ja möglich, dass er freigesprochen wird.