Der Rücktritt der Regierung von Ministerpräsident Hassan Diab beendet ein erst seit Jänner im Amt befindliches Koalitionsbündnis im Libanon. Die heftigen Proteste der Bevölkerung gegen die Regierung, der ein politisch-kulturell-religiöses Proporzsystem zugrunde lag, haben von Tag zu Tag zugenommen und Diab zum Rücktritt gezwungen.
Auch ein neues Regierungsbündnis wird einen Ausgleich zwischen Christen, Schiiten, Sunniten und den anderen politisch-religiösen Minderheiten schaffen müssen, um nicht einen offenen Bürgerkrieg zu provozieren. Staatspräsident Michel Aoun, selbst seit Jahrzehnten im politischen System fest verankert, ist ein Gefangener der fragilen Machtverhältnisse.
„Wiener Zeitung“: Nahost-Experte sieht Systemversagen
Der Politologe und Nahost-Experte Martin Beck sieht in einem Interview mit der Wiener Zeitung ein fortgesetztes Systemversagen als Ursache der gegenwärtigen Krise, die sich auch ohne die Explosionskatastrophe Anfang August früher oder später entladen hätte.
Beck gibt einen Einblick in das politische System des Libanons, das die Basis des derzeitigen Zustandes ist, und das auch bei Neuwahlen nicht geändert würde:
Es ist weiterhin so, dass das Wahlsystem das Wählen nach religiöser Zugehörigkeit begünstigt. So müssen in gewissen Wahlkreisen die Kandidaten etwa Christen oder Sunniten sein. Viele Libanesen wollen dieses System theoretisch sofort abschaffen. Doch in der Praxis profitieren auch viele davon.
Sie wählen klientelistische Parteien, die ihre Wähler dafür an dem korrupten System beteiligen müssen. Deshalb haben viele Libanesen doch auch Angst, dass nichts mehr für sie übrigbleibt, wenn es dieses System nicht mehr gibt.
Politisches Establishment für Bankrott verantwortlich
Für den Experten Beck steht fest, dass es im Libanon auf der Grundlage dieses Systems ein Versagen der Mächtigen gibt. So hätte die politische Klasse im Libanon seit den Massenprotesten im vergangenen Herbst schwer unter Druck gestanden. Damals seien bis zu einer Million Menschen auf der Straße gewesen.
Alle etablierten Parteien hätten restlos versagt, indem sie sämtliche wirtschaftliche Probleme einfach ignoriert haben – obwohl die Wirtschaft praktisch kollabiert ist und der Libanon knapp vor dem Staatsbankrott steht. Die Politiker hätten versucht weiterzumachen, als wäre nichts passiert.