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8. Mai 2010 / 15:09 Uhr

20 Jahre danach: Russland am Scheideweg

20 Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands, ein Wendepunkt der Geschichte, der das Ende der Nachkriegsordnung in Europa und der Hegemonie kommunistischer Regime über weite Teile Eurasiens markiert, scheint es ein guter Zeitpunkt, die Entwicklung der ehemals kommunistisch beherrschten Staaten genauer zu betrachten. Als Ausgangspunkt dieser Betrachtung bietet sich Russland als ehemaliges Kernland des roten Imperiums an.

Das Ende eines Imperiums

Nach dem missglückten Putsch orthodoxer Kommunisten 1991 war das Ende der Sowjetunion nicht mehr aufzuhalten, die in 15 Nachfolgestaaten zerfiel. Um sich die Größenordnung dieser Veränderung vor Augen zu halten, muss man sich Gewahr werden, dass das Einflussgebiet Moskaus, das vor 25 Jahren noch von der innerdeutschen Grenze bis zum Stillen Ozeans und weit nach Zentralasien hinein reichte, binnen drei Jahren von ca 25 Millionen Quadratkilometer auf 17 Millionen Quadratkilometer schrumpfte. (Die Staaten des Warschauer Paktes und die Mongolei sind mit eingerechnet, da ihre Eigenständigkeit stark begrenzt war.) In Bevölkerungszahlen nimmt sich der Machtverlust noch viel dramatischer aus: ca 400 Millionen Einwohner (Warschauer Pakt) bzw. ca 290 Millionen Einwohner (Sowjetunion) stehen 142 Millionen Einwohnern des heutigen Russlands gegenüber. Das russische Imperium war auf den Stand Peters des Großen zurückgeworfen worden. Die Tatsache, dass sowohl ein großer Teil der Bevölkerung als auch die wesentlichen Entscheidungsträger des heutigen Russland diese schmerzlichen Veränderungen bewusst miterlebt haben, sollte nicht übersehen werden.

Großmachtanspruch bleibt

Wladimir PutinSeit Wladimir Putins Regierungsantritt versucht die neue Führung wieder verstärkt, den russischen Großmachtanspruch durchzusetzen, und es scheint als ob das Große Spiel des 19. Jahrhunderts um den Einfluss in Zentralasien mit den USA und China als neuen Mitspielern wieder aufflammt. Durch die „Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit“ bildet Russland mit Armenien, Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Usbekistan und Weißrussland ein Verteidigungsbündnis, teilweise sind auch russische Truppen in diesen Staaten stationiert. Als strategischer Partner ist China für Russland besonders wichtig; 2002 unterzeichneten diese beiden und vier weitere zentralasiatische Staaten in St. Petersburg das Abkommen  der „Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit“. Drei große gemeinsame Militärmanöver sollten auch als Machtdemonstration nach außen, vor allem gegenüber den USA, dienen. Insbesondere das aggressive Auftreten der USA seit 2001 hat die Gegensätze zwischen China und Russland in dieser Region bisher überdeckt. Auch der Iran ist ein möglicher Partner trotz russischer Vorbehalte gegen dessen Atomprogramm, wie die Teilnahme des iranischen Präsidenten an den Treffen der Shanghai-Gruppe 2008 und 2009 zeigte.

Der Einfluss in Osteuropa ist mit Ausnahme Weißrusslands und der Ukraine stark zurückgegangen. Russland wird vor allem als Rohstoffexporteur gesehen. Anders verhält es sich allerdings im Kaukasus, wie der Krieg gegen Georgien 2008 zeigte, als Russland seine Muskeln spielen ließ.

Grosse Probleme im Inneren

BildDen außenpolitischen Ansprüchen Russlands stehen große Probleme im Inneren gegenüber. Neben 80 % Russen leben knapp hundert andere Völker auf dem Territorium Russlands, viele von ihnen Muslime. Während insbesondere die muslimischen Minderheiten ein starkes Bevölkerungswachstum aufweisen, ist die Demographie der Russen selbst eines der größten Probleme des Landes. Die Geburtenrate hat sich seit 1950 halbiert, die durchschnittliche Lebenserwartung ist niedrig, vor allem bei Männern (EU-Schnitt: ca. 76  Jahre, Russland ca. 59 Jahre). Die russische Regierung bemüht sich seit 2007, diesem Trend u.a. durch ein neues Mutterschaftsgeld entgegenzuwirken. Die Wirkung dieser Maßnahmen ist positiv, aber gering; außerdem dämpft die Rückwanderung vieler Russen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken den Bevölkerungsschwund. Neben der schwachen Geburtenrate ist insbesondere die Ausbreitung sozialer Krankheiten (Alkoholismus, Drogenmissbrauch, Tuberkulose, HIV, Depressionen), unter denen ca 10% der Russen – hauptsächlich Männer – leiden, verheerend. Alkoholismus verkürzt nicht nur die Lebenserwartung sondern reduziert auch die Lebensarbeitsfähigkeit um etwa 15 Jahre. Hohe Abtreibungs- Unfall- und Selbstmordraten runden das Bild einer kranken Gesellschaft ab. Dazu kommen große regionale Unterschiede zwischen aufstrebenden Regionen und Landstrichen ohne Zukunft.

Einseitige Wirtschaft

Die russische Wirtschaft schien bis zum Beginn der Finanzkrise auf dem Erfolgsweg – hohe Wachstumsraten, zunehmende Investitionen und großes Exportvolumen spiegelten eine Ökonomie im Aufschwung vor. Dass die Finanzkrise Russland besonders stark trifft, liegt nicht nur an äußeren Faktoren sondern vor allem an großen Strukturproblemen. Die russische Wirtschaft ist in sehr hohem Maße vom Rohstoffexport abhängig. Knapp zwei Drittel aller Ausfuhren in Nicht-GUS-Länder (Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, Staatenbund von Nachfolgestaaten der UdSSR) entfällt auf Rohstoffexporte, an zweiter Stelle steht die Waffenindustrie. Zusammen machen diese beiden Industriezweige etwa 25% des BIP aus; dadurch wird Russland in hohem Maß für Schwankungen des Weltmarktes anfällig.

Ein weiterer Hemmschuh für positive Wirtschaftsentwicklung sind die grassierende Korruption und die organisierte Kriminalität, die vor allem Auslandsinvestoren abschrecken, aber auch den russischen Klein- und Mittelbetrieben schwer zu schaffen machen. Russland liegt auf Platz 146 von 180 des Corruption Perception Index 2009 von Transparency International. Ob das 2009 beschlossene Antikorruptionsgesetz Früchte tragen wird, bleibt abzuwarten.

Die Wirtschaftsprognosen sind dennoch positiv. Noch immer ist Russland ein Gebiet mit hohem Investitionsbedarf; dazu kommt ein Aufschwung der russischen Konsumgüterindustrie, die mit billigen Produkten vor allem im asiatischen Raum neue Absatzmärkte erschließt.

Probleme an den Rändern

Der weiterhin ungelöste Konflikt in Tschetschenien verdeutlicht die Probleme der russischen Zentralmacht an ihren Rändern. Bisher ist es aber in den meisten Gebieten Südrusslands, des Kaukasus und Sibiriens, in denen die unzähligen muslimischen Minderheiten leben, nicht zu einem Flächenbrand gekommen. Dennoch liegen die Ursachen für das harte Durchgreifen der Regierung in Tschetschenien sicherlich in der Furcht vor einer Ausbreitung der Separatismusbestrebungen dieser Völker. Eine ganz andere Entwicklung zeichnet sich im dünn besiedelten äußersten Osten Russlands am Pazifik ab: Entlang der Grenze zu China dominieren inzwischen zugewanderte Chinesen die Region.

Gelenkte Demokratie

Vor allem im westlichen Ausland stößt das Konzept der „gelenkten Demokratie“ auf Kritik. Wie die Mehrheit der Russen selbst diesem System gegenübersteht, ist schwer abzuschätzen, kommen in westlichen Medien doch hauptsächlich entweder Kritiker des Systems oder Vertreter des Staates zu Wort. Systemkritiker haben es aber ohne Zweifel schwer im heutigen Russland, und die Ereignisse um die Ermordung von Anna Politkowskaja und Alexander Litwinenko haben den Einfluss der Geheimdienste und mafiöser Strukturen in Russland verdeutlicht.

Russland im 21. Jahrhundert

Peter Scholl-Latour Russland im ZangengriffOb Russland weiterhin eine Großmacht im Eurasischen Raum bleibt, wird vor allem von der Fähigkeit der russischen Führung abhängen, die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Probleme zu lösen. Die Bevölkerungsentwicklung stellt sicherlich die größte Herausforderung Russlands dar. Ein weiterer Zerfall des riesigen Landes hätte auf jeden Fall gravierende Auswirkungen auf die Stabilität sowohl Europas als auch Asiens. Trotz positiver Ansätze und Entwicklungen bleibt es fraglich, ob Russland, wie es heute existiert, das 21. Jahrhundert überleben wird.

Buchtipp: Russland im Zangengriff; Peter Scholl-Latour; Ullstein Taschenbuch

Bildquellen: Wladimir Putin: www.kremlin.ru; Obdachlose: Sergei Dorokhovsky

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