Wie schnell die Zeit doch vergeht und sich Meinungen ändern! Noch vor wenigen Jahren war die Ukraine für Europa ein Schurkenstaat, der die Zivilbevölkerung terrorisiert. Heute darf deren Präsident als heroischer Held dem Westen die Moral predigen.
“Europa trägt Mitverantwortung”
Als ARD-Journalist Georg Restle vor acht Jahren live im Fernsehen seinen Kommentar zur Lage in den ukrainischen Provinzen Donezk und Luhansk abgab, hätte er sich wahrscheinlich nicht träumen lassen, dass seine Worte einmal historische Bedeutung haben werden – und Jahre später im Mainstream womöglich nur noch Verachtung finden würden. Damals sagte Restle wörtlich:
Dies kann, dies darf Europa nicht dulden. So wie Moskau mitverantwortlich ist für eine Soldatestka, die Unschuldige entführt, foltert und mordet, so tragen Europas Regierungen Mitverantwortung für das rücksichtslose Töten einer Regierung, der sie selbst zur Macht verholfen haben. Deshalb braucht es jetzt eine klare Botschaft an die Machthaber in Kiew: der Terror gegen die Zivilbevölkerung muss beendet, der Artilleriebeschuss von Wohngebieten sofort eingestellt werden. Wenn nicht, macht sich Europa mitschuldig. Dann sind die getöteten Zivilisten im Häuserkampf von Donezk und Luhansk auch unsere Toten. Auch das ukrainische Militär terrorisiert die Zivilbevölkerung. Es trägt den Krieg mit Artilleriefeuer in Wohn- und Schlafzimmer. Es nimmt kaum Rücksicht auf die Not der Menschen und auf deren Leben offenbar noch weniger.
Konflikt in Ost-Ukraine wurde Flächenbrand
Viele Ukrainer wollten 2019 dem Versprechen des vormaligen Komikers Wolodymyr Selenskyj glauben, er könne den Krieg mit Russland in der Ost-Ukraine schnell beenden. Schon nach einem Jahr ist in der Bevölkerung Ernüchterung eingekehrt, weil bald klar wurde, dass Russlands Präsident Wladimir Putin keinerlei Interesse daran hat, durch ein Eindämmen des Konflikts die nach Westen strebende Ukraine zu stärken. Der Konflikt in der Ost-Ukraine hat sich im Gegenteil zu einem fürchterlichen Flächenbrand entwickelt.
„Korrupt wie eh und je“
Die Süddeutsche Zeitung (SZ) hatte noch im Februar 2021 überhaupt keine Skrupel, Selenskyj unter dem Titel „Korrupt wie eh und je“ die Leviten zu lesen. Selten sei ein Präsident in der Gunst der Wähler so schnell abgestürzt wie Selenskyj, hieß es in einem Kommentar. Weniger als zwei Jahre nach seinem triumphalen Sieg über Amtsinhaber Petro Poroschenko würde laut Umfragen gerade noch ein Fünftel der Ukrainer in einem ersten Wahlgang für ihn stimmen. Das sollte, so der SZ-Autor, dem Westen zu denken geben.
Nichts gegen die Macht der Oligarchen getan
Die SZ warf Selenskij 2021 auch vor, keine Reformen durchgeführt und nichts gegen die Macht der Oligarchen über weite Teile von Politik, Medien und Wirtschaft getan zu haben. Wörtlich schrieb die Zeitung:
Würden in der Ukraine nicht Milliarden geklaut, bräuchte das Land keine Kreditmilliarden aus dem Westen. Der Internationale Währungsfonds immerhin hat sich nun geweigert, Selenskyj weiteres Geld zu leihen, solange dieser nur wohlfeile Reformversprechen abgibt.
Vom Kredit-Schuldner zum Moral-Apostel
Jetzt, nach dem Angriffskrieg von Russland auf die Ukraine, ist alles anders. Geld spielt anscheinend überhaupt keine Rolle mehr. Und Selenskyj wurde nicht nur zum Helden im westlichen Europa, sondern auch zu einem Politiker, der allen anderen die Moral predigt.