Nach einem umstrittenen Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts verkündete die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, dass man gegen Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren vorbereite. Es wäre nach Polen und Ungarn der dritte Mitgliedsstaat, gegen den geklagt wird.
Nationale Verfassung gegen EU-Recht
Offiziell steht das Recht der Europäischen Union über dem nationalen Recht jedes Mitgliedsstaates. Das EU-Recht steht somit sogar über der Verfassung, in Deutschland (da es keine offizielle Verfassung gibt) also über dem Grundgesetz. Inoffiziell wird aber davon ausgegangen, dass in jedem Staat gewisse „Grundpfeiler“ der Verfassung unverrückbar sind, zum Beispiel die Grundrechte im Grundgesetz. Auf diesen würde theoretisch jegliches EU-Recht basieren, sie stehen also über dem EU-Recht. Zu einem realen Konflikt dieser nationalen „Grundpfeiler“ mit dem EU-Recht kam es bisher äußerst selten. Nun ist jedoch genau das in Deutschland passiert.
EZB spekuliert in Billionenhöhe
Hintergrund ist die Finanzpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB). Wie die Süddeutsche Zeitung berichtet, investiert die EZB seit 2015 enorm viel Geld in Staatsanleihen und Wertpapiere. Zwischen 2015 und 2019 waren es rund 2,6 Billionen Euro. Das deutsche Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe urteilte im Mai 2020, dass die EZB ihre Kompetenzen damit überschreite und erklärte die Ankäufe in Bezug auf deutsche Banken für nicht rechtswirksam. Sie forderte, dass zumindest eine unabhängige Behörde prüfe, ob die Höhe der Investitionen der EZB verhältnismäßig ist.
Von der Leyen für Verfahren
Die Präsidentin der Europäischen Kommission, dem mächtigsten Organ der EU, Ursula von der Leyen, teilte umgehend nach dem Urteil mit, dass man ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland prüfen werde:
Das letzte Wort zu EU-Recht wird immer in Luxemburg gesprochen. Nirgendwo sonst.
Ausgerechnet ihr Heimatland reiht sich somit in die Reihe derjeniger Mitglieder ein, gegen die die EU prozessiert. Bisher gab es nur Prozesse gegen Ungarn (Umgang mit NGOs und Pressefreiheit) und Polen (Unabhängigkeit der Justiz). Rumänien (Korruption) hat 2020 nur eine Verwarnung erhalten. Deutschland war unter Bundeskanzlerin Angela Merkel in den letzten 16 Jahren die treibende Kraft im Aufbau der Europäischen Union und deren Justizsystem.
Letzte Möglichkeit für Deutschland
Heute, Mittwoch, wurde die Entscheidung offiziell. Die Europäische Kommission bereitet ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland vor. Deutschland hat nun als letzte Möglichkeit noch einige Monate Zeit, sich zu dem Vorfall offiziell zu äußern und die Bedenken der EU aus dem Weg zu räumen. Kommt Deutschland dem nicht nach, wird die Klage beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) eingereicht. Dabei sind die juristischen Fronten zwischen Luxemburg und Karlsruhe momentan verhärtet.